Welche mathematische Funktion ist gleich ihrer dritten Ableitung?
Fragen und Bemerkungen gerne an: werner.brefeld@web.de, Adresse: siehe Impressum,
Themenübersicht auf der Hauptseite: |
10. Die Funktion y = ex ist identisch mit ihrer ersten Ableitung. Die Funktionen y = e–x und y = – e–x reproduzieren sich erst mit der zweiten Ableitung und die Funktionen y = sin(x), y = cos(x), y = – sin(x) und y = – cos(x) erst mit der vierten Ableitung. Gibt es Funktionen, die erst wieder mit ihrer dritten Ableitung identisch sind und wie lautet ein Beispiel?
Die folgende Funktion hat die gewünschte Eigenschaft, erst wieder mit ihrer dritten Ableitung übereinzustimmen:
y = cos(½·√3·x) · e–½·x
Es gilt nämlich:
y’ = (–½ · cos(½·√3·x) – ½ · √3 · sin(½·√3·x)) · e–½·x
y’’ = (–½ · cos(½·√3·x) + ½ · √3 · sin(½·√3·x)) · e–½·x
y’’’ = y
Wie kommt man auf die diese Lösung? Man nehme die komplexe Funktion y = e(a + b·i)·x.
Die n-te Ableitung beträgt: y(n) = (a + b·i)n · e(a + b·i)·x.
Diese Ableitung ist gleich der Funktion selber, wenn (a + b·i)n gleich 1 ist. Von den Lösungen für n
(Stichwort: Gaußsche Zahlenebene) wählt man diejenigen aus, bei denen sich nur dann die 1 ergibt,
wenn man sie n-mal miteinander multipliziert. Für n = 3 gibt es genau 2 derartige Lösungen. Sie sind komplex und
lauten (–½ + ½·√3·i) und (–½ – ½·√3·i). In beiden Fällen ist a gleich –½, während b im ersten Fall
½·√3 und im zweiten Fall – ½·√3 ist. Die entsprechenden Überlegungen gelten für die Funktion
y = e(a – b·i)·x. Addiert man diese beiden komplexen Funktionen, erhält man eine reelle Funktion mit den
gleichen Eigenschaften:
y = e(a + b·i)·x + e(a – b·i)·x
= ea·x · (eb·i·x + e–b·i·x)
= 2 · cos(b·x) · ea·x
Da cos(b·x) gleich cos(–b·x) ist, führt das Einsetzen der beiden Lösungen auf das gleiche Ergebnis.
Da sich der Faktor 2 beim dreimaligen Ableiten nicht ändert, kann er auch weggelassen werden und man bekommt die oben
angegebene Lösung y = cos(½·√3·x) · e–½·x für die gesuchte Funktion.
Subtrahiert man die beiden komplexen Funktionen, erhält man eine rein imaginäre Funktion, die auch die oben
erwähnten Eigenschaften besitzt:
y = e(a + b·i)·x – e(a – b·i)·x
= ea·x · (eb·i·x – e–b·i·x)
= 2i · sin(b·x) · ea·x
Da sich auch der Faktor 2i beim Ableiten nicht ändert, ist die reelle Funktion, die sich durch Weglassen
dieses imaginären Faktors ergibt, ebenfalls eine Funktion mit den gewünschten Eigenschaften:
y = sin(b·x) · ea·x
Setzt man die Lösung für a und die beiden Lösungen für b in die Funktion ein und lässt den bei der
zweiten Lösung für b entstehenden Faktor –1 weg, dann bekommt man eine weitere reelle Funktion,
die erst wieder mit ihrer dritten Ableitung übereinstimmt:
y = sin(½·√3·x) · e–½·x
y’ = (–½ · sin(½·√3·x) + ½ · √3 · cos(½·√3·x)) · e–½·x
y’’ = (–½ · sin(½·√3·x) – ½ · √3 · cos(½·√3·x)) · e–½·x
y’’’ = y
Nach dem oben beschriebenen Verfahren kann man nicht nur für n = 3 Funktionen mit den gewünschten Eigenschaften finden,
sondern für alle n. Die oben erwähnten Lösungen der Gleichung (a + b·i)n gleich 1 bekommt man am
einfachsten, wenn man in eine Gaußsche Zahlenebene einen Einheitskreis zeichnet, dessen Mittelpunkt im Nullpunkt liegt.
Dann teilt man den Kreisumfang in n gleiche Kreisbögen, wobei man rechts beim Schnittpunkt des Einheitskreises mit
der reellen Achse beginnt. Jeder Anfangs- bzw. Endpunkt eines Kreisbogens ist dann eine Lösung der Gleichung.
Mit Hilfe von Winkelbetrachtungen und den Definitionen von Sinus und Cosinus kann man dann jeweils a und b bestimmen.
Aus den beiden Lösungen, die der reellen Lösung 1 benachbart sind, lassen sich nach dem oben beschriebenen
Verfahren wieder reelle Funktionen konstruieren, die erst nach der n-ten Ableitung mit sich selbst identisch sind.
Diese Funktionen lauten:
y = cos(sin(360°/n)·x) · ecos(360°/n)·x
Setzt man für n die Werte 1, 2, 3 oder 4 ein, erhält man die schon erwähnten bzw. berechneten Funktionen.
Was ist verblüffend an diesem Mathematik-Rätsel? Intuitiv glauben viele, es gebe nur die in der Schule
gelernten und oben erwähnten Möglichkeiten, um nach einer bestimmten Zahl von Ableitungen erstmals wieder
die Ausgangsfunktion zu bekommen.
Copyright © Werner Brefeld (2001; Originalrätsel)