Wahlverfahren und die Uneindeutigkeit der Sitzverteilung im Parlament
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Welches sind sinnvolle Wahlverfahren für eine Parlamentswahl, um die Sitzverteilung für die Abgeordneten zu bestimmen? Warum können Wahlverfahren zu unterschiedlichen Mandatsverteilungen führen?
Auf den ersten Blick scheint alles eindeutig zu sein. Angenommen, das Parlament hätte s Sitze und die Wähler hätten
w gültige Stimmen abgegeben. Ist nun p1 die Anzahl der Stimmen für Partei P1 und bezeichnen wir
die ihr dadurch eigentlich zustehende Anzahl von Sitzen oder Mandaten mit q1, so errechnet sich diese so
genannte Sitzquote folgendermaßen:
q1 = (p1 / w) · s
Hätte das Parlament beispielsweise 11 Sitze (s = 11) und hätten von 100.000 Wählern 51.000 Wähler die Partei P1,
34.000 Wähler die Partei P2 und 15.000 Wähler die Partei P3 gewählt (p1 = 51.000,
p2 = 34.000, p3 = 15.000 und w = p1 + p2 + p3 = 100.000), bekämen die
Parteien folgende Sitzquote:
Partei | Sitzquote |
P1 | 5,61 |
P2 | 3,74 |
P3 | 1,65 |
Nun kann man jeder Partei nur eine ganzzahlige Anzahl von Sitzen zuweisen und nicht die gebrochene
Anzahl, die ihnen eigentlich zusteht. Man ahnt, dass dadurch das oben angedeutete Problem entsteht.
Aber warum teilt man den drei Parteien nicht einfach zunächst ihren ganzzahligen Anteil an Mandaten zu, also 5, 3 und 1,
um dann die übrig gebliebenen Mandate (in diesem Fall 2) den Parteien zu geben, deren Sitzquote sich am weitesten
oberhalb des ganzzahligen Anteils befindet. Im Beispiel würden die Parteien P2 und P3 noch jeweils
ein weiteres Mandat bekommen, weil bei ihnen die Abstände mit 0,74 und 0,65 am größten sind. Dieses Verfahren gibt es tatsächlich.
Es heißt Hare-Niemeyer-Verfahren oder Verfahren der größten Reste und wird z.B. bei der Besetzung des
deutschen Bundestages angewendet.
Aber ist es eindeutig das einzig sinnvolle Verfahren für eine Parlamentswahl?
Welche sinnvollen Eigenschaften würde man gerne von einem geeigneten Wahlverfahren verlangen?
1. Es sollte die so genannte Quotenbedingung erfüllen, die Anzahl der den Parteien zugewiesenen Sitze sollte also entweder
gleich der abgerundeten oder gleich der aufgerundeten Sitzquote sein. Im Beispiel müsste Partei P1 also 5 oder 6,
P2 müsste 3 oder 4 und P3 müsste 1 oder 2 Mandate bekommen. Das Hare-Niemeyer-Verfahren erfüllt diese
Bedingung per Definition.
2. Eine weitere wichtige Eigenschaft für ein geeignetes Mandatszuteilungsverfahren ist die Mehrheitsbedingung. Sie besagt,
dass eine Partei, die die absolute Mehrheit der Stimmen bekommen hat, immer auch die absolute Mehrheit der Sitze bekommen soll.
Wie das obige Beispiel zeigt, versagt hier das Hare-Niemeyer-Verfahren. Obwohl die Partei P1 51% der Stimmen
auf sich vereinigt, erhält sie nur 5 von 11 Sitzen.
3. Weiterhin sollte man von einem geeigneten Mandatszuweisungsverfahren erwarten, dass keine Partei Sitze verliert,
wenn das Parlament um einen Sitz vergrößert wird. Diese Eigenschaft nennt man Hausmonotonie. Auch diese Bedingung erfüllt
das Hare-Niemeyer-Verfahren nicht immer, wie das folgende Beispiel zeigt:
Partei | Stimmen | Sitzquote | Sitze | Sitzquote | Sitze |
für insgesamt | für insgesamt | ||||
11 Sitze | 12 Sitze | ||||
P1 | 48000 | 5,28 | 5 | 5,76 | 6 |
P2 | 39000 | 4,29 | 4 | 4,68 | 5 |
P3 | 13000 | 1,43 | 2 | 1,56 | 1 |
Eine Vergrößerung der Parlamentssitze von 11 auf 12 führt hier also dazu, dass die Zahl der Mandate für
die Partei P3 von 2 auf 1 sinkt.
4. Dann sollte die minimal benötigte Anzahl von Stimmen pro Mandat möglichst groß sein soll.
Dieses Kriterium zielt auf den Grundsatz „ein Wähler, eine Stimme" und nennt sich Minimax-Bedingung.
5. Schließlich soll ein geeignetes Mandatszuteilungsverfahren das Kriterium erfüllen, dass keine Partei Sitze verlieren
darf, wenn sich ihr Stimmenanteil erhöht, und umgekehrt. Dieses Kriterium nennt sich Stimmenmonotonie.
Wie schon erwähnt, erfüllt das Hare-Niemeyer-Verfahren die Quotenbedingung immer, weil jeder Partei zunächst ihr ganzzahliger Anteil
an Mandaten zugewiesen wird, was der abgerundeten Sitzquote entspricht. Anschließend bekommt jede Partei eventuell ein weiteres Mandat
zugeteilt. Aber für alle übrigen vier Bedingungen kann man Beispiele finden, bei denen das Hare-Niemeyer-Verfahren versagt. Deshalb
verwendet man oft das Mandatszuteilungsverfahren von d’Hondt. Es wird auch Verfahren der größten Quotienten genannt. Hierbei teilt man
zunächst die Stimmen für die einzelnen Parteien nacheinander durch 1, 2, 3, … , s, wobei s die Anzahl der Sitze des Parlaments ist:
1 | 51000 | 34000 | 15000 |
2 | 25500 | 17000 | 7500 |
3 | 17000 | 11333 | 5000 |
4 | 12750 | 8500 | 3750 |
5 | 10200 | 6800 | 3000 |
6 | 8500 | 5667 | 2500 |
7 | 7286 | 4857 | 2143 |
8 | 6375 | 4250 | 1875 |
9 | 5667 | 3778 | 1667 |
10 | 5100 | 3400 | 1500 |
11 | 4636 | 3091 | 1364 |
Dann werden die 11 größten Zahlen (Quotienten) bestimmt und den entsprechenden Parteien
dafür jeweils ein Sitz zugeteilt. P1 bekommt also nun 6 Sitze, P2 bekommt 4 Sitze und
P3 bekommt 1 Sitz. Die Mehrheitsbedingung ist somit erfüllt. Man kann zeigen, dass bis auf die Quotenbedingung
alle sonst erwähnten auch erfüllt sind. Es kann jedoch vorkommen, dass eine Partei mehr Sitze erhält, als
der aufgerundeten Quote entspricht. Hier liegt der Schwachpunkt. Es gibt noch weitere Verfahren,
die im Gebrauch sind. Aber es gibt kein Verfahren, das alle Bedingungen erfüllt, die man von einem guten
System verlangen würde.
Links zum Thema:
Spektrum der Wissenschaft (September 2002): Wer kommt ins Parlament?
Spektrum der Wissenschaft (Oktober 2002): Verhältniswahlrecht häppchenweise
Spektrum der Wissenschaft (Oktober 2002): Wahlgleichheit - Muster ohne Wert
Copyright © Werner Brefeld (2005)